Seit der Gründung unserer Milonga El Amateur in Stuttgart war es uns ein Wunsch Sexteto Canyengue einzuladen. Nach sechs Jahren hatten wir den organisatorischen Mut und die finanziellen Mittel uns den kleinen Traum zu erfüllen. Anläßlich dieses Gastspiels führte ich ein Interview mit Carel Kraayenhof.
1. Wo hast Du Leo Vervelde getroffen und wie habt Ihr Euch gefunden um gemeinsam fuer den Tango zu arbeiten?
C.K.:Seit 1985 habe ich als Bandonenist and Arrangeur bei Tango Cuarto gearbeitet. Leo Vervelde habe ich bei einem Konzert von Tango Cuarto in Amsterdam kennen gelernt, wo ich selber auch aufgetreten bin, damals noch als Akkordeonist. Wir sprachen einander regelmässig über das Bandoneon und den Tango; im Sommer 1988 bin ich eingesprungen für Alfredo Marcucci in Neuchâteau (Belgien) während eines Bandoneonkurses, da habe ich meine eigenen Studenten mitgebracht. Einer der Musikanten, die mitkamen, um mehr über das Bandoneon zu lernen, war Leo. Wir entdeckten, dass wir uns beide vor allem durch Musik von Pugliese angezogen fühlten. Daraufhin beschlossen wir, zusammen ein Sextet zu gründen, mit Hilfe von zwei Musikern von Tango Cuarto: den Bassisten Gustavo Lorenzatti en den Pianisten Piet Capello.
2. Wie haben Leo und Du es auch noch geschafft gleichzeitig Vater von Zwillingen zu werden?
C.K.: Der Meisterbandoneonist Juan José Mosalini, bei dem Leo und ich eineinhalb Jahre lang in Paris am Konservatorium Edgar Varèse Unterricht hatten, sagt das folgende über das Bandoneon: die Komplexität des Instrumentes ist so gross wegen seiner vier Systeme, die der Spieler zu kennen hat: öffnend und schliessend hat man zwei total verschiedene Tastaturen, und noch dazu unterscheidet sich links (?baskant?) völlig von rechts (?diskant?); darum muss der Spieler seinen Kopf in vier Teile teilen. Leo und ich haben schon oft zu einander gesagt, dass das vielleicht der Grund ist, dass wir alle beide Väter von Zwillingen geworden sind?
3. Warum ist das Bandoneon das geeignete Musikinstrument fuer den Tango? Es sieht fast so aus als haetten die Argentinier auf dieses Instrument gewartet.
C.K.: Wie in der Zwischenzeit bekannt ist, kommt das Bandoneon ursprünglich aus Deutschland; benannt nach Heinrich Band (?das Bandoneon?), ist das Bandoneon weitestgehend entwickelt durch den Fabrikanten Alfred Arnold aus Carlsfeld (Erzgebirge), der später das Instrument en masse nach Argentinien exportierte. Anfangs wurde das Instrument verwendet, um Volksmusik zu spielen (Polkas, Masurkas, Walzer) und auch für klassische Musik und Kirchenmusik. Als das Bandoneon via deutsche Emigranten nach Buenos Aires kam, zeigte sich, dass das Timbre des Instruments gut zum Charakter der Tangomusik passte. Mit seinem melancholisch-warmen Klang im Baskant, der dem Klang des Cello ähnelt, und seinem schrill-hellen Klang im Diskant, ist das Bandoneon hervorragend geeignet den melodischen und harmonischen Reichtum des Tango zu übersetzen und seine tiefe, variierte emotionale Ladung zu verkörpern. Für den Tango und die Argentinier wies das Bandoneon mehr Vorteile auf als das Akkordeon: der Baskant produziert ausschliesslich individuelle Töne, es gibt keine vorprogrammierten Akkordknöpfe, sondern öffnend und schliessend nur jeweils einen Ton pro Knopf. Dadurch kann die linke Hand eine melodische Funktion erhalten und es wird möglich, komplexere Harmonien zu spielen, so wie auf dem Klavier.
Ausserdem zeigte sich, dass der Klang des Bandoneons phantastisch passte zu sowohl Streichinstrumenten und Klavier als auch zu anderen Bandoneons. So bedachte man eine ganze Bandoneonsektion im ?órquesta típica?, wovon die Funktion sich vergleichen lässt mit der der Bläsersektion in einer Jazz Big Band.
4. Du arbeitest mit Leo und Gustavo Bytelmann am Tango Konservatorium in Rotterdam. Wie gestaltet Ihr dort den Unterricht?
C.K.: 1990 wurde ich zu einem Orientierungsgespräch über die Einführung einer Bandoneon-Ausbildung am Rotterdams Conservatorium eingeladen; damals konnte das nicht realisiert werden wegen Mangels an Studenten. Drei Jahre später lud Joep Boer, Leiter der Weltmusikabteilung, mich ein, eine Fachgruppe für Tangomusik einzurichten. Ich schlug daraufhin vor, diese neue Studeinrichting zusammen mit Leo Vervelde ins Leben zu rufen. 1993 wurde die Fachgruppe Argnetinischer Tango offiziell durch den künstlerischen Leiter Osvaldo Pugliese eröffnet. Seit dessen Tod 1995 wird seine Arbeit fortgeführt durch den Komponisten/Pianisten Gustavo Beytelmann. Die Ausbildung ist folgendermassen gestaltet: es werden drei Hauptfächer unterrichtet: Bandoneon, Klavier, Violine und Gitarre. Daneben kriegen die Studenten Fächer wie Geschichte des Tango, Musiktheorie, Transkription von Musikaufnahmen und alle anderen Fächer, die zu einer Ausbildung zu einem Musiker/Musikdozenten gehören. Ausserdem gibt Gustavo Beytelmann jeden Monat eine zweitägige Masterclass im Arrangeren und Komponieren und arbeitet mit den Klavierstudenten. 1994 wurde das orquesta típica OTRA gebildet (?Orquesta Tanguera de Rotterdam integrada por Alumnos?), das Studenten-Tangoorchester unter der Leitung von Vervelde und Kraayenhof. Dieses Orchester gibt Studenten die Möglichkeit den Tango, so wie er in Buenos Aires in den 1940ern gebräuchlich war, kennen zu lernen und zu interpretieren. Auch wurden Ensembles wie das Quintet Locura Tanguera und das Sextet Recuerdo gegründet. Leo Vervelde ist der Dozent für Bandoneon und Coordinator/Leiter von OTRA, und er koordiniert als Stabmitarbeiter die Fachgrupper AT. Ich gebe Stunden für Bandoneon und Piano und begleite das Studentensextet Recuerdo, das ich 1999 gestartet habe. Martijn van Linden ist Docent Violine (tango-interpretation) und Kay Sleking ist unsere neue Errungenschaft als Docent Gitarre.
5. Wie kamst du zum Tango?
C.K.: Seit meinem achten Lebensjahr hatte ich Klavierstunden und da lernte ich klassische Musik zu interpretieren. Als ich in der Mittelbaren Schule war, spielte ich oft Ragtime. Auf Anraten meines Bruders hin, der viel europäische Volksmusik spielte, lernte ich Ziehharmonika spielen (Melodeon/ diatonisches Akkordeon) und englische Concertina, und ich begann aufzutreten mit verschiedenen Bands mit denen ich englische, irische schottische, französische und niederländische Volksmusik spielte. 1980 hat mir ein befreundeter Musiker eine LP vorgespielt mit Solostücken für Bandoneon, gespielt durch Juan José Mosalini. Es war Liebe auf den ersten Blick (oder besser gesagt, aufs erste Hören!). Nachdem ich viele LP?s von Piazzolla gehört hatte mit Solo-, Quintett- und Orchesterwerken entdeckte ich ältere Aufnahmen von Tango-Orchestern von Pugliese, Troilo, Salgán, Sexteto Mayor, etc. Und natürlich von Quartetten Troilo/Grela und Federico/Grela. Via das Bandoneon entdeckte ich die Geschichte des Tango und seine verschiedenen Stile und so entwickelte sich meine Liebe für diese Musik.
6. Wie seid Ihr auf den Namen "Sexteto Canyenque" gekommen?
C.K.: 1987 nahm ich aus Montevideo eine LP mit von Pugliese mit dem titel ?Sentimental y Canyengue?, benannt nach einer Komposition von Leopoldo Federico. Wegen des starken kulturellen und musikalischen Inhalts des Wortes ?canyengue? beschlossen Leo und ich 1988 unser neues Ensemble ?Sexteto Canyengue? zu nennen.
7. Welche Bedeutung hat der Begriff Canyengue im musikalischen Sinn?
C.K.: Außer auf den spezifischen Tango-Tanzstil, der Canyengue genannt wird, deutet dieses Wort auch einen speziellen Rhythmus im Tango an, der mit seinen afrikanischen Wurzeln zu tun hat (viele Wörter die auf ?ngo? oder ?ngue? enden wie Tango, Bongo, Conga, Merengue, Canyengue haben mit Afrika zu tun): während die Rhythmusgruppe des Orchesters (Klavier und Kontrabass) im ?Contratiempo? spielen (gegen den Takt und/oder synkopisierend) spielt der Solist oder eine frasierende Gruppe (?rubato?) die Melodie; die übrigen Instrumente machen Percussionsgeräusche (z.B. schlagen die Bandoneonisten mit ihrem Fingern oder Handflächen auf den Klangkörper der linken Seite des Bandoneons, die Geiger klopfen mit den Fingern oder dem Bogen gegen den Klangkörper ihrer Geige oder spielen ?chicharra? (?Grille?: kratzen mit dem Bogen vor dem Steg). Diese Perkussiven Erfindungen wurden eingeführt, weil spezifische Schlaginstrumente in den endgültigen Besetzungen der Tango-Orchester fehlten; der Tango ist eine der wenigen Süd-Amerikanischen Genres, die keine feste Schlaginstumentenbesetzung haben. Ansonsten bedeutet ?Canyengue? eine Art zu laufen oder spazieren, so wie ein älterer ?Porteño? das zu tun pflegte, wenn er an einem warmen Nachmittag durch seine geliebte Stadt schlenderte. Im allgemeinen kann man sagen, was ?swing? für den Jazz ist, ist ?Canyengue? fur den Tango.
8. Worin besteht der Unterschied zwischen konzertanter Spielweise und dem Spielen zum Tanz eines Orchesters und was begeistert Euch mehr?
C.K.: Die Anziehungskraft des Gebens eines Konzertes ist v.a. die Anwesenheit der Stille, aus der Spannung aufgebaut werden kann. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, Meschen auf die Stuhlkante zu bringen, um mit angehaltenem Atem die Klimax eines Stückes abzuwarten. Das ist es auch, was mich als Zuhörer am meisten Verzückung bringt. Die Interaktion mit dem Publikum kann man stark fühlen, aber natürlich nicht so deutlich sehen wie in einem Tanzsalon. Eine andere Art der Sensation ist das Auftreten als Begleitorchester für ein tanzendes Publikum, wobei die Aufmerksamkeit nicht allein auf das Podium gerichtet ist, sondern sehr divers verteilt ist: zwischen den Tanzpaaren untereinander und zwischen den Musikern und den Tänzern; das gibt mir mehr das Gefühl ?mit allen zusammen aufzutreten?. Ein wieder anderes Gefühl habe ich beim Spielen als Begleitorchester in einer Tango-show, wobei wir mit professionellen Tänzern arbeiten, wie z.B. seit 1998 mit der Nueva Compañia Tangueros (von Mariachara Michieli und Marco Castellani). Ich kann nicht genau sagen, was ich am schönsten finde oder was das meist bewegenste; all diese Auftrittsformen sind eng miteinander verknüpft und repräsentieren kulturelle Äusserungen des Tango, die seit alters her in Argentinien und Uruguay bestehen.
9. Worauf hat ein Orchester zu achten, wenn es zum Tanz aufspielt?
C.K.: Osvaldo Pugliese erzählte mir einmal, was sein Vater, der in den 20ern in Tango-Ensembles Querflöte spielte, zu ihm gesagt hat: wenn Du verstehen willst wie der Tango interpretiert werden muss, musst Du nach den Füssen der Tänzer schauen. Wenn Du die Komplexität, das Tempo und den Rhythmus von den Bewegungen der Tänzer in Dich aufnimmst, kannst Du die Musik besser fühlen. Wenn Du ein Tanzpaar Tango tanzen siehst, begleitet durch ein Orchester, siehst Du die Noten, die gespielt werden, visualisiert in den Schritten der Tänzer. Und als ich Pepito und Suzuki ohne Musik habe üben sehen, hörte ich die Milonga, die sie tanzten.
10. Wie wichtig ist es fuer ein Orchester kontinuierlich und ohne haeufige Wechsel in der Besetzung zusammen zu arbeiten?
C.K.: Mein großer Traum war und ist, einen Musikkameraden zu finden, mit dem ich arbeite bis wir dabei umfallen. Sexteto Mayor, mehr als 25 Jahre zusammen, ist immer ein großes Vorbild von mir gewesen; und natürlich Pugliese und Piazzolla, Salgán und de Lío, die jahrelang mit den gleichen Musikern zusammengearbeitet haben. Der Vorteil ist der einer guten Ehe: wenn man einander durch und durch kennt, strahlt die gemeinsame Energie und Ruhe einer untereinander stabilen Beziehung auf deine Arbeit, auf das Publikum. Die Zeit, in der wir (in West-Europa) jetzt leben, scheint jedoch nicht eine Zeit von Kollektivität, sondern von Individualismus zu sein. Gemeinschaftliche Träume sind ersetzt durch individuelle Träume, und die ganze Gesellschaft verlangt auch von den Küstlern eine individuellere Ambition. Keine Big Bands oder Orquestas típicas, sondern Duos, Trios etc.. Leo und ich haben zehn Jahre lang miteinander gearbeitet in Sexteto Canyengue; zur Zeit arbeiten wir zusammen in unserer Tango-Ausbildung in Rotterdam. Nach zwölf Jahren muss ich konstatieren, dass ich als einziger von der ursprünglichen Besetzung des Sextetos übrig geblieben bin. Das hat jedoch auch Vorteile: jeder neue Musiker, der zum Sextet kommt, bringt seine eigene Musikgeschichte und Energie mit, wodurch neues Blut auch neue Ideen und neue Klänge mit sich bringt.
11. Wie kann ein europaeisches Orchester es schaffen, die Geheimnisse der Tangospielweisen zu ergruenden, wenn man doch nicht in der Tangometropole mit den alten Maestros lebt?
C.K.: Ich bin der Meinung, dass in unserer heutigen kosmopolitschen Welt mit seiner Multimedia und schnellen Flugreisen ein japanischer Geiger genauso gut Mozart spielen kann wie ein deutscher; ein Jazz Drummer aus Paris genauso gut sein kann wie einer aus New York; ein Falmencogitarist aus Helsinki ebenso gut sein kann wie einer aus Córdoba; ein holländischer Bandoneonspieler ebenso gut sein kann wie ein argentinischer. Wenn man Musiker überhaupt qualitatif miteinander vergleichen kann. Was essentiell ist in der Ausübung von Kunst, ist universal: Durchsetzungvermögen, das ständige Suchen nach dem Tiefgang, Disziplin und Neugierde. Nicht dein Blut, Geschlecht, Rasse oder Nationalität bestimmen, ob Du etwas erreichen kannst, sondern Dein Herz, Kopf, Leidenschaft und Willenskraft. Natürlich bin ich diverse Male für längere Zeit in Buenos Aires und Montevideo gewesen und habe da die Tangokultur absorbieren können. Aber mein grösstes Glück ist, dass ich noch in den 80er Jahren mit Pugliese und Piazzolla gearbeitet habe (in Amsterdam, Buenos Aires und New York) und dass ich viele alte Meister kennengelernt habe. Gerade das macht den Unterschied: wenn ich jetzt jungen argentinischen Tangueros begegne, bin ich überrascht, dass sie Piazzolla oder Pugliese nie live haben spielen hören. Noch immer muss man nach Buenos Aires, will man zu dem durchdringen, was ehrfurchtsvoll ?die Geheimnisse des Tango? genannt wird; aber viel Wissen und Erneuerungen kommen in den letzten Jahrzehnten auch aus Paris, wo Maestros wie Beytelsmann und Mosalini neue Weg erkunden. Und die argentinische Ökonomie ist so schlecht dran, dass mehr und mehr argentinische Tangomusiker fast ausschliesslich im Ausland arbeiten oder da sogar wohnen.
12. Spricht man mit argentinischen Musikern und Taenzern, so sagen sie, dass bei der Musik von Sexteto Canyengue sehr deutlich der europaeische Einfluss zu hoeren ist. Siehst Du das auch so und kannst Du uns beschreiben was damit gemeint ist?
C.K.: Meine Antwort auf diese Frage its natürlich subjektiv: ich selber denke, dass Sexteto Canyengue argentinischer klingt als die meisten anderen Tangogruppen in Europa, und ich werde auch oft in meiner Meinung bestärkt durch Argentinier, die beim Hören unserer Musik unmittelbar denken, dass wir Argentinier sind. Andererseits kommen die meisten Musiker des Sextets aus Europa und haben dadurch einen total anderen Hintergrund als argentinische Tangomusiker. Die meisten von uns haben erst nach ihrem zwanzigsten Lebensjahr angefangen, Tango zu spielen. Auch introduzieren wir Elemente, die vorher nicht üblich waren, wie die Kombination von Milonga mit Salsa-Einflüssen. Aber ich sehe keine Ähnlichkeit zwischen dem Werk von Sexteto Canyengue und dem sogenannten ?Europäischen Tango? (auf den ballroom-Tango getanzt wird).
13. Die argentinische Nachfolgegruppe von Osvaldo Pugliese ist Color Tango mit Senor Alvarez, die europaeische heisst Sexteto Canyengue. Worin liegt Deiner Ansicht nach der Unterschied bei diesen beiden Gruppen?
C.K.: Color Tango habe ich zu meiner grossen Ehre und Vergnügen ab der Gründung 1989 von nahem mitmachen dürfen; ich war beteiligt bei ihrer ersten CD-Aufnahme. Roberto Alvarez ist ein guter Freund von mir und mein Maestro auf dem Gebiet des Pugliese-Stils. Abgesehen von dem Unterschied in der Erfahrung (Alvarez und Tolsa haben jahrelang getourt als Mitglieder von Puglieses Orchester) unterscheidet sich die Besetzung doch ziemlich von unserer: Color Tangos siebtes Mitglied, Gustavo Hunt, spielt das Teclado, Keyboards, womit die Geigen verstärkt werden. Unser Sextet verwendet das nicht. Ein anderer Unterschied betrifft unsere Repertoirewahl: wir haben bewusst neben den geliebten Pugliese-Tangos konzertante Stücke von Piazzolla in unser Repertoire aufgenommen, wegen des persönlichen Bandes, das ich mit ihm hatte, aber auch wegen der Freude, die wir am Spielen seines Werkes haben.
14. Wie war Deine Begegung mit Osvaldo Pugliese und was hat Dich am staerksten beeindruckt?
C.K.: Ich habe Pugliese 1985 in Amsterdam auftreten sehen, habe ihn damals aber nicht persönlich getroffen. Ich habe damals nur mit Roberto Alvarez, dem ersten Bandoneonisten, gesprochen. Ich habe Pugliese 1989 kennengelernt, als er in Amsterdam war zur Feier des 50-jährigen Jubiläums seines Orchesters. Er gab ein einmaliges Auftreten im Königlichen Theater Carré mit als special guest Astor Piazzolla. Das war übrigens auch das erste Mal, dass sie zusammen auf der Bühen standen, sie spielten ?La Yumba? und ?Adios Nonino?. Wir haben mit dem Sextet ein spezielles Fest für ihn organisiert: das ganze Orchester war eingeladen in einem Theater in Amsterdam, wo wir für sie auftraten. Wir spielten zum ersten Mal meine Ehrbezeugung an Pugliese: ?Clavel rojo?. 1990 wurde ich gefragt, um mit dem Orchester von Pugliese ?La Yumba? zu spielen bei ihrem Auftritt in Rotterdam und im November desselben Jahres spielte unser Sextet zusammen mit seinem Orchester in Buenos Aires im Teatro Alvear und in La Casa del Tango. Zum Anlass seines 85sten Geburtstages liess Maestro Pugliese uns im nationalen Fernsehen in ?La Noche de Sofovich? spielen. In dieser Zeit filmte der Regisseur Leendert Pot die Dokumentation ?Im Bann des Tango?, worin u.a. Pugliese erzählte über seine musikalischen Abenteuer.
Die beste Art, mein Band mit Don Osvaldo zu beschreiben, ist, dass es ein Band war wie zwischen Grossvater und Enkel: jedes Mal, wenn ich nach Buenos Aires kam, besuchte ich ihn und seine Frau Lidia in ihrem Haus auf der Corrientes, um Tee zu trinken und dann sprachen wir meistens über alles ausser Tango! Don Osvaldo erzählte die ganze Zeit Witze und ich konnte ihn beinah nicht dazu überreden, etwas über seine Kompositionen und Arrangements zu erklären?. Er hatte übrigens ein starkes Interesse an unserem Sextet (er nannte mich Pedrito Maffia) und liess mich alte Arrangements kopieren, die er in den 50ern für sein Orchester gemacht hatte. Ich fühlte mich nie näher an den Wurzeln des Tango als dann, wenn ich in der Nähe diese grossen Maestros war, der soviele Episoden überlebt hatte in der Geschichte des argentinischen Tangos. Ich war nicht nur beeindruckt von seinen Qualitäten als Orchesterleiter, als überraschenden Pianisten und wirklich originellen Komponisten, ich bewunderte auch die Art, auf die er sein Orchester nach seinen politischen Überzeugungen organisierte und die Art, wie er seinen Idealen treu blieb. Es ist beeindruckend, dass die Argentinier, als Pugliese gefangen genommen wurde, auf die Mauern schrieben: ?der Tango ist gefangen genommen?. Als Don Osvaldo starb, schrieb die argentinische Presse: ?das Gewissen von Argentinien ist gestorben??.
Obwohl das ?orquesta típica? von Pugliese die doppelte Anzahl von Geigen und Bandoneons hat, denke ich, dass die originale Sextetformation die Basis formt für den orchestralen Klang des Tango. Ein wichtiges Ziel von Sexteto Canyengue ist es, um ein kleines ?orquesta típica? zu sein, um in Arrengements und Instrumentationen einen vergleichbar vollen Klang zu kreieren. Besonders in diesen Aspekt bin ich stark beeinflusst durch Pugliese, vor allem auf dem Gebiet der Rhythmik und Harmonie.
15. Wie hat sich Dein Treffen mit Astor Piazzolla ergeben und was hat Dich am staerksten beeindruckt?
C.K.: Piazzolla habe ich 1987 in Amsterdam kennen gelernt, obwohl er mich schon 1985 in einem Restaurant hat spielen sehen. Jedes Mal, wenn er mit seinem Quintett in den Niederlanden war, probierte ich, ihn zu sehen, um seine fantastische Musik und seine unglaubliche Art Bandoneon zu spielen in mir aufzunehmen. Ich habe ihn in Amsterdam und Paris ein paar Mal getroffen. Als er mich Bandoneon spielen hörte, lud er mich ein, um drei Monate in New York als Solo-Bandoneonist in dem Tango-Musical ?Tango Apasionado? aufzutreten (über das Leben von Jorge Luís Borges), wofür er die Musik geschrieben hatte. Es war eine unglaubliche Erfahrung, um in diesem Quintett zu spielen, das durch Piazzolla für diese Produktion zusammengestellt war und in mir erwachte eine große Passion für seine Musik. Unter den anderen Musikern war sein Gitarrist Rodolfo Alchourrón und sein Pianist Pablo Zinger, der der künstlerische Leiter war. Danach lud er mich in sein Haus in Punta del Este in Uruguay ein. Ich muss zugeben, dass ich damals wahrscheinlich zu jung war (v.a. auf dem Gebiet der Tangomusik), um völlig zu ermessen, was es bedeutete, im Kontakt zu stehen mit einem Komponisten und Musiker wie Astor Piazzolla. Er hinterliess jedesmal einen tiefen Eindruck bei mir: Woran ich mich vor allem erinnnere ist, dass er die Energie von mindestens sechs Pferden hatte und den Mut eines Löwen. Ich habe selten einen Mann gesehen mit soviel Begeisterung, der so seinen eigenen Weg ging ohne sich von dem, was andere von ihm dachten, beeinflussen zu lassen. Andererseits war er auch meistens symphatisch und entspannt und sogar unsicher im Umgang mit neuen Menschen. Ich erinnere mich, wie er meine Hände festhielt, nachdem ich ?La última curda? und ?Con el cielo en los manos? für ihn gespielt hatte und ich sah die Emotion in seinem Gesicht. Er konnte echt geniessen, wenn jemand anderes gut musizierte und war in solchen Momenten wie ein grosser Bruder. Seit seinem Tod 1992 hatte ich die Gelegenheit, sein Werk ausführlich zu analysieren, sowohl als Bandoneonist als auch als Arrangeur. Durch das Studieren von der Instrumentation seines Quintetts, haben wir es als Sextett geschafft, ein wichtiges Ziel zu erreichen, nämlich ein Sextett von Solisten zu sein, mit dem ersten Bandoneonisten, dem ersten Geiger und dem Pianisten als Protagonisten.
16. Haette der Tango ohne Astor Piazzolla ueberhaupt ueberleben koennen?
C.K.: Es ist schwierig, zu beurteilen, ob der Tango ohne Astor Piazzolla überlebt hätte, gerade weil Piazzolla so einen zentralen Platz einnimmt in der rezenten Tangogeschichte und im Entwickeln von neuen Konzepten. Es ist deutlich, dass der Tango dank Piazzolla auf internationalem Niveau einen höheren Bekanntheitsgrad und Verbreitung erfahren hat. Auch wird der Tango dank seines Werkes immer öfter in die klassische Musik aufgenommen. Vielleicht wäre dem Tango ein marginaleres Bestehen beschieden ohne Piazzolla, aber in Argentinien hätte der Tango immer überlebt, denn da ist er unlöslich mit der Seele des Volkes verbunden.
17. Wie wuerdest Du beide charakterisieren?.
C.K.: Pugliese würde ich umschreiben als den Duke Ellington oder den Count Basie des Tango, den innovierenden, immer orchestral denkenden Mann-des-Volkes mit bescheidenen aber ergreifenden Piano-Solos. Piazzolla dahingegen würde ich charakterisieren als den Miles Davis des Tango, den revolutionären, solistisch denkenden Individualisten.
Besten Dank, Carel.
Das Interview führte Johannes Schulz (El Amateur).